Altes georgisches Volksmärchen – Die Schlange und der Bauer

Bunte Kacheln, Tiflis

Heute möchte ich mit euch ein altes georgisches Volksmärchen teilen, in dem es, meines Erachtens, darum geht, dass wir keine singulären Wesen sind, sondern von größeren Kräften bewegt werden, die uns auf einer kollektiven Ebene beeinflussen. Ich habe mich sehr gefreut, diese Parabel zu finden, und stelle sie euch hier mit Begeisterung vor.

Die Schlange und der Bauer

Es war einmal ein glücklicher König. Ob groß oder klein, ob Magd oder Mann, jeder war glücklich in seinem Reich, jeder war froh und zufrieden.

Einmal hatte der König eine Vision. In seinem Traum hing an der Decke seines Hauses ein Fuchs, der an seinem Schwanz aufgehängt war. Als er erwachte, konnte er nicht erkennen, was der Traum bedeutete. Er rief seine Wesire zusammen, aber auch sie konnten nicht erahnen, was dieser Traum voraussagte.

Dann sagte er: “Versammelt mein ganzes Königreich, vielleicht kann jemand den Traum deuten. Am dritten Tag versammelte sich das ganze Volk seines Reiches im Palast des Königs. Unter anderem kam ein armer Bauer.

An einem Ort musste er einen Fußweg entlanggehen. Der Weg war auf beiden Seiten durch felsige Berge versperrt. Als der Bauer dort ankam, sah er eine Schlange auf dem Weg liegen, die ihren Hals reckte und ihre Zunge herausstreckte.

Als sich der Bauer näherte, rief die Schlange: ‘Guten Tag, wohin gehst du, Bauer?’ Der Bauer erzählte, was los war. Die Schlange sagte: “Fürchte dich nicht vor ihm, gib mir dein Wort, dass du alles, was der König dir gibt, mit mir teilen wirst, und ich werde dich lehren. Der Bauer freute sich, gab sein Wort und schwor: “Ich werde dir alles bringen, was der König mir gibt, wenn du mir in dieser Sache hilfst. Die Schlange sagte: ‘Ich werde es in zwei Hälften teilen, eine Hälfte wird dir gehören; wenn du den König siehst, sprich: “Der Fuchs bedeutet, dass es im Königreich List, Heuchelei und Verrat gibt.”‘

Der Bauer ging zum König und erzählte ihm, was die Schlange ihn gelehrt hatte. Der König war sehr erfreut und machte ihm große Geschenke. Der Bauer kehrte nicht auf demselben Weg zurück, um die Geschenke nicht mit der Schlange zu teilen, und ging auf einem anderen Weg.

Einige Zeit verging, und der König hatte eine weitere Vision: In seinem Traum hing ein nacktes Schwert vom Dach herab. Diesmal schickte der König schnell einen Mann, um den Bauern zu holen, und bat ihn zu kommen. Der Bauer war sehr unruhig im Kopf. Es gab nichts zu tun, der Bauer ging denselben Weg wie zuvor.

Er kam an den Ort, an dem er zuvor die Schlange gesehen hatte, aber nun sah er die Schlange dort nicht mehr. Er rief aus: ‘O Schlange, komm einen Augenblick her, ich brauche dich.’ Er hörte nicht auf, bis die Schlange kam. Er sagte: “Was willst du? Was bedrückt dich denn? Der Bauer antwortete: “So und so ist die Sache, und ich brauche Hilfe. Die Schlange erwiderte: “Geh und sag dem König, dass das nackte Schwert Krieg bedeutet – die Feinde intrigieren von innen und außen; er muss sich zum Kampf rüsten und angreifen.

Der Bauer dankte der Schlange und ging. Er kam und sagte dem König, was die Schlange mitgeteilt hatte. Der König war erfreut, bereitete sich für den Krieg vor und machte dem Bauern große Geschenke. Nun ging der Bauer den Weg entlang, auf dem die Schlange wartete. Die Schlange sagte: “Nun gib mir die Hälfte, die du versprochen hast. Der Bauer antwortete: “Die Hälfte sicher nicht! Ich werde dir einen schwarzen Stein und eine brennende Schlacke geben.’ Er zog sein Schwert und stürzte sich auf sie. Die Schlange zog sich in ein Loch zurück, aber der Bauer folgte ihr und schnitt ihr mit seinem Schwert den Schwanz ab.

Einige Zeit verging, und der König hatte erneut eine Vision. In dieser Vision hing ein geschlachtetes Schaf vom Dach herab. Der König schickte schnell einen Mann, um den Bauern zu holen. Der Bauer hatte nun sehr viel Angst. Und er sagte: “Wie kann ich mich dem König nähern? Früher hatte ihn die Schlange gelehrt, aber jetzt konnte sie das nicht mehr; als Antwort auf ihre Güte hatte er sie mit dem Schwert verwundet.

Trotzdem ging er jenen Fußweg. Als er an die Stelle kam, wo die Schlange gestanden hatte, rief er aus: ‘O Schlange, komm einen Augenblick her, ich will dich etwas bitten.’ Die Schlange kam. Der Mann erzählte seinen Kummer. Die Schlange sagte: “Wenn du mir die Hälfte von dem gibst, was der König dir gibt, werde ich es dir sagen. Er versprach es und schwor es. Die Schlange sagte: “Dies ist ein Zeichen dafür, dass nun überall Frieden herrscht und die Menschen wie ruhige, sanfte Schafe sein werden.

Der Bauer bedankte sich und ging seines Weges. Als er zum König kam, sprach er so, wie die Schlange es ihm aufgetragen hatte. Der König war hocherfreut und gab ihm noch größere Geschenke. Der Bauer kehrte auf dem Weg zurück, auf dem die Schlange wartete. Er kam zur Schlange, teilte alles, was er vom König erhalten hatte, und sagte: “Du warst geduldig mit mir, und nun will ich dir auch das geben, was mir der König zuvor gegeben hat. Er bat demütig um Vergebung für seine früheren Vergehen. Die Schlange sagte: “Sei nicht betrübt noch beunruhigt; es war gewiss nicht deine Schuld. Das erste Mal, als alle Menschen betrügerisch waren und es Verrat und Heuchelei im Land gab, warst auch du ein Betrüger, denn trotz deines Versprechens gingst du auf einem anderen Weg nach Hause. Beim zweiten Mal, als überall Krieg herrschte, Streit und Mord, hast auch du mit mir gestritten und mir den Schwanz abgeschnitten. Aber jetzt, wo Frieden und Liebe über alle gekommen sind, bringst du die Geschenke und teilst alles mit mir. Geh, Bruder, möge der Friede Gottes mit dir sein! Ich will deinen Schatz nicht.’ Und die Schlange ging weg und warf sich in ihre Höhle.


Quelle: Georgian Folk Tales

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